Weniger wäre mehr. Ein typisches Regionalküchen-Problem im „Au Raisin d’Or“ in Zimmerbach/Elsass

Die Ausgangslage war ganz normal und korrekt. Man hört sich um, wo es eine gute Regionalküche gibt, findet einen Bib Gourmand im Michelin, Punkte im Gault Millau, hat Empfehlungen von Freunden und – in diesem Falle – auch die eines bekannten deutschen Restaurateurs mit subtiler Elsass-Kenntnis. Es folgte das Essen und – wieder einmal – eine beträchtliche Irritation wegen der eher begrenzten Qualitäten. Muss man Restaurants wie das „Au Raisin d’Or“ immer relativ sehen? Geht es um ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis? Um eine populäre Küche, die man nicht allzu kritisch betrachten sollte? Es gab also wieder einmal viele Gedanken zum Thema und leider auch wieder der fade Nachgeschmack einer Enttäuschung. Es gab wieder einmal die Hoffnung, eine gute Regionalküche zu bekommen, wieder einmal Daten, die Gutes versprachen und im Endeffekt wieder einmal das gleiche, frustrierend enttäuschende Ergebnis. Wo ist das Problem?

Zum Beispiel das „Choucroute aux poissons d’eau douce“

Dieser Klassiker wird hier in weitgehend klassischer Form serviert. In der Mitte liegt eine große Menge Sauerkraut. Obenauf gibt es eine dünne Scheibe Räucherlachs, die durch das warme Sauerkraut quasi gegart wird. Den Abschluß bildet ein Flusskrebs. Die Fische sind Karpfen, Zander, Aal, Lachsforelle, Omble-Chevalier und etwas Quenelle-Masse. Die Sauce ist eine der klassischen Fischsaucen, die hier von Traiteurs bis zu Restaurants immer noch sehr häufig eingesetzt werden. Die Fische befinden sich durchweg in einem nicht besonders überzeugenden Zustand. Lediglich der feste Karpfen und die Quenelle-Masse schmecken besser. Der Flußkrebs ist eine Deko-Objekt ohne Geschmack. Während das geschmackliche Bild zwischen Fischen und Sauce dem einer bescheidenen, bürgerlichen Küche entspricht, wird der Akkord mit dem Sauerkraut selbst bei kleinen Sauerkraut-Mengen sofort sinnlos. Das Sauerkraut ist einfach viel zu kräftig für den Fisch und überlagert sein Aroma komplett. Insofern ist die Komposition eine schwache bis sinnlose und man muss sich die Frage stellen, ob dieses traditionelle Rezept in dieser oder ähnlichen Formen überhaupt Sinn macht.

Was Heiko Nieder und andere Spitzenköche damit zu tun haben

Heiko Nieder, der Koch von „The Restaurant“ im Hotel Dolder Grand in Zürich hat bei der FAZ-Gala in Schloss Bensberg, bei der unsere „Lieblinge des Jahres“ geehrt wurden, als Preisträger einen Fisch mit einer Sauerkraut Beurre-Blanc präsentiert. Er schmeckte natürlich ganz ausgezeichnet. Will sagen: die Idee, das Sauerkraut-Aroma mit Fisch zu nutzen, ist gut, aber es kommt sehr auf die Ausführung, vor allem auf die Proportionen an. Das Sauerkraut-Aroma als „saures“ Element einer klassischen Beurre blanc (an Stelle oder zusammen mit Essig oder Wein etc.) einzusetzen, macht sogar ausgesprochen viel Sinn, weil die Beurre einen schönen bodenständigen Charakter bekommt, der mit vielen Fischen ganz ausgezeichnet harmoniert.

In der traditionellen und/oder bürgerlichen Küche verhebt man sich häufig und es entstehen kulinarische Irrläufer

Die Küche im „Raisin d’Or“ wirkt mit einem Gericht wie diesem Choucroute aus zwei Gründen überfordert. Einmal ist die Bevorratung gleich mehrerer Sorten Fisch und deren korrekte und nur auf diese Weise sinnvolle Garung offenbar nicht zu leisten. Man versucht es trotzdem – vielleicht in der festen Überzeugung, dass das Publikum solcher Restaurants mit dieser Qualität zufrieden ist, weil es vielleicht bessere Qualitäten gar nicht kennt und damit keine Vergleiche hat. Dieses häufig zu findende „Einrichten“ in einer Art kulinarischen Mangelwirtschaft, ist natürlich keine gute Sache und schadet im Grunde der ganzen Gastronomie, weil auf diese Weise Qualitätsmaßstäbe verloren gehen.

Einen zweiten Aspekt möchte ich „kulinarische Irrläufer“ nennen. Es ist in der Szene der Restaurants mit traditioneller Küche vollkommen unüblich, die Traditionen, die man angeblich pflegt, einmal auf ihren Sinn zu hinterfragen. Kann es sein, dass das ein oder andere Gericht aus heutiger Sicht vielleicht gar keinen Sinn macht, weil es noch mit Techniken und einem Verständnis von Qualität arbeitet, das heute längst überholt ist? In vielen traditionellen Rezepturen werden Produkte sinnlos überlagert oder sinnvolle Proportionen komplett außer Acht gelassen. Man arbeitet mit einem irgendwie überlieferten, groben Geschmacksbild, das in den Details dem, was man heute unter professionellem Handwerk versteht, überhaupt nicht entspricht. Ein solcher Irrläufer unter den Rezepten scheint mir auch das Choucroute zu sein. Das Prinzip könnte gut sein, aber es fehlt eine optimierte Fassung, die die Dinge so zusammenbringt, dass es Sinn und Spaß macht.

Ich habe immer wieder darauf hingewiesen, dass das Erste, was man im Zusammenhang mit einer neuen Regionalküche leisten müßte, die wirklich zeitgemäße Optimierung der Rezepturen ist. Erst mit solchen Optimierungen wird das Potential traditioneller Rezepte wirklich klar.

Jede Art von Küche sollte mit Perfektion überzeugen

Wenn es denn für viele traditionelle Restaurants zu schwierig ist, eine solche optimierte Küche zu kochen, sollte man das machen, was man leisten kann und das dann richtig gut. Der Ausspruch „weniger ist mehr“ gehört normalerweise aus verschiedenen Gründen nicht zu meinem Repertoire. In diesem Falle möchte ich ihn wieder einmal aufnehmen. Die bürgerliche und/oder traditionelle Restaurantküche sollte – wie jede andere Küche auch – das, was man anbietet, in einer Art von Perfektion anbieten. Alles andere macht keinen Sinn, ist unerfreulich und schadet insgesamt dem Bild, das die Gäste von der Gastronomie haben sollten.

Ich kenne viele Beispiele (auffällig viele davon aus dem Bereich guter, bodenständiger österreichischer oder italienischer Restaurants), bei denen die Köche das, was sie anbieten, in Perfektion machen. Manch ein Schnitzel Wiener Art mit säuerlichem Kartoffelsalat, manch ein Kaspressknödel oder manch ein gesottenes Rindfleisch in einfachen Restaurants hat dieses Niveau einer gewissen Perfektion: man kann es anders, aber eben nicht unbedingt besser machen.

Mit einer solchen Leitlinie, die sich natürlich ohne weiteres auch auf die Spitzenküche beziehen läßt, kann sich die Gastronomie stabilisieren und an Überzeugungskraft gewinnen. Wenn sie sich verhebt, wird sie schnell nicht nur schlecht, sondern geradezu sinnlos.

Noch ein paar Sätze zum „Raisin d’Or“ in Kurzform

Andere Gerichte in diesem Restaurant sind unter den oben genannten Aspekten in unterschiedlichen Stadien. Die klassischen Schnecken mit Petersilie und Knoblauch sind stark überwürzt und keine Freude. Eine andere Version nach Art des Koches ist da wesentlich besser. Sie vermischt die Schnecken u.a. mit Pinienkernen und Stückchen von Magret de Canard und schmeckt auf diese Weise vielleicht nicht besonders deutlich nach Schnecken, dafür aber abgerundet, interessant und milder

 

Ein Gericht mit Sot l’y laisse und Pfifferlingen (zusammen gegart) schmeckt over all cremig und mild wie Huhn, Sahne und Pilze, ist also kein besonders gutes Feature für die Pfifferlinge. Hier wird offensichtlich ein süffiges Gesamtbild in den Mittelpunkt gestellt.

Die „Assiette gourmande du Raisin d’Or“ ist eine Art Vorspeisenvariation mit Foie gras, Räucherlachs, Presskopf, Terrine, Schinken und Magret de Canard. Die Details sind soweit o.k., weichen aber nicht grundsätzlich von anderen Restaurants dieser Kategorie. Ob man Foie gras und Räucherlachs gleichzeitig auf einem Teller braucht, ist fraglich. Außerdem sollte man die Foie gras im letzten Moment und kalt platzieren, damit sie sich nicht – wie hier passiert – bereits auflöst.

 

Das „Mechtkratzerla d’Alsace, rôtí dans son roaster Francis Staub“ deutet zumindest an, welche eigene Ästhetik und kulinarische Qualität sich entwickeln könnte. Das Gericht ist ein wenig „brut“, schmeckt aber mit den ebenfalls gerösteten Beilagen und den vielen, aber guten Röstnoten vom Huhn nicht schlecht. Hier ist nicht versucht worden, etwas zu machen, was man nicht beherrscht oder was keinen Sinn macht.

 

 

 

8 Gedanken zu „Weniger wäre mehr. Ein typisches Regionalküchen-Problem im „Au Raisin d’Or“ in Zimmerbach/Elsass“

  1. Als Fazit dieses und vieler vorangegangener Posts sehe ich zahlreiche „proustische“ Mitsuchende „à la recherche du restaurant perdu“, will sagen der feinen Regionalküche als Lebensaufgabe. Inzwischen ist es wohl zu akzeptieren, dass es diese Küche in Deutschland und angrenzenden Ländern kaum noch gibt. Die Frage ist: warum nur? Ich habe darüber bisher nur Klagen, aber keine überzeugende Antwort gelesen. Interessanterweise wird man hier bei dem angesagten Soziologen Reckwitz fündig, der in seiner These von der spätmodernen Hyperkultur, in der das Singuläre (hier die Hochküche) valorisiert wird, postuliert, dass damit automatisch eine Abwertung der bestehenden allgemeinen Kultur (hier Regionalküche) einhergeht. Und welcher hoffnungsvolle junge Herdartist sieht seine Zukunft in einem devalorisierten Metier?

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  2. … und das geschnitzte Radieschen ist 70-er-Jahre oder früher.
    Es fehlt nur noch die Orangenscheibe mit Sahnehäubchen und Kirsche aus dem Glas.
    Sowas nehme ich heute in einer Sportheimgaststätte (gerade noch) hin – aber in einem Lokal mit einem „Bib“ ???

    Auch die Einrichtung des Lokals ist nur Folklore“ und hat nichts mit Authentizität zu tun – leider typisch für eine Vielzahl von dortigen Restaurants. Aber wer will das ? Die Pariser, die glauben im Elsass seinen sie bei den Goten ?

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  3. Also unabhängig ob man “Feinschmecker”, “Genussesser” oder einfach nur jemand ist, der “unprätentiös” gerne essen geht … aber ich stelle mir grad wirklich die Frage, wie um Himmels Willen das oben im Bild festgehaltene Choucroute bei dieser zusammengeschusterten Menge an Komponenten und der Basis ein “gut schmeckendes” (ja ist relativ) Miteinander produzieren soll – auch nur ansatzweise. Tradition hin oder her, aber Der Teller würde nicht einmal mehr als “ugly delicious” durchgehen.

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  4. Lieber Herr Dollase, ich habe gerade Ihre website entdeckt und bin begeistert. Vielen Dank fuer die tiefen Einblicke in Ihre Gedankenwelt und den lehrreichen Umgang mit Sprache. Den Kommentaren zum Elsass von Alexander und Klaus kann ich nur zustimmen. 🙂

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  5. Interessante Gedanken und Thema! Spannend auch der Bezug zu Heiko Nieder, bei dem ich wiederum an einen Besuch im Manresa, Los Gatos, denken musste, wo David Kinch einen Felsenbarsch mit Pfifferlingen, Spot Prawns und einem leicht mit Butter gebundenem Choucroute-Jus kombinierte – Weltklasse.

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  6. Ich habe es gerade gestern so formuliert, an die Adresse eines der beiden hier ansässigen süditalienischen Spitzenköche (beide sind Puristen und Intellektuelle mit Fähigkeit zum gelegentlichen Humor, diese Geistigkeit aufruhend natürlich auf perfekt beherrschtem Handwerk und sehr guter Kenntnis der großen Klassik); denn der Adressat hat sich – er war wie alle hier coronageschädigt – momentan etwas stärker auf Elemente fokussiert, die er [s]einer „großmütterlichen“ Traditionsküche zuschreibt oder in ihr als emotionale Reminiszenz zu verankern sucht.

    Dagegen habe ich nun mein Statement oder meinen kulinarischen Glaubenssatz gestellt:

    „Una tradizione, anché una tradizione culinaria, non e MAI una continuità. Mai.
    Una tradizione sempre e una sfida. E niente d’altro.

    Perché, come le diceva Tancredi nel „Gattopardo“: «Se vogliamo che tutto rimanga come è, bisogna che tutto cambi.»
    Grande ‚regula magistri‘ per tutto cuoco.“

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  7. Hier schließt sich doch der Kreis zu Ihrem Artikel vom 1.7.2020 („Lasst die Elsässer nicht allein“).
    Wir beobachten das schon seit längerer Zeit: Die meisten Restaurants im Elsass sind kulinarisch seit Jahren im Stillstand bzw. im Vergleich zur badischen Seite sogar im Rückwärtsgang .
    Während der „Vorsprung“ in den 70-er Jahren gewaltig und in den 80-er Jahren noch spürbar war, lohnt es sich schon lange nicht mehr, wegen eines besonderen Esserlebnisses dorthin zu fahren.

    Das gilt meiner Erfahrung nach auch für die dortigen Weine – schade .

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    • Genau das, lieber Klaus Hammer, ist mein Gravamen. Der Elsass ist so etwas von vorvorgestern – erzverstaubt. Nicht etwa einzelne Köche oder einzelne Winzer; da gibt es wie überall in der Welt interessante Entwicklungen. Aber in toto, also qua kollektive Mentalität, sieht es schlimm aus.
      Ich wüsste beispielsweise keinen elsässischen WInzer zu nennen, desen Pinot Gris auch nur bis auf 4 Punkte (in der Zwanziger-Skala) an die großen badischen Grauburgunder herankäme. Undifferenzierte süße Plörren ohne Finesse einer wie er andere, Grand Cru oder nicht. Und die Gewürztraminer halten inzwischen auch keinem Vergleich zu den deutschen (oder tschechischen) Spitzen mehr stand.
      Zum Essen: teurer und schlechter (und vor allem wesentlich langweiliger) als auf der deutschen Rheinseite.

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