Nils Henkel im Bootshaus. Warum dieser Küchenstil so interessant und gut ist

Nach meiner Restaurantkritik gestern in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung kann ich hier die Arbeit von Nils Henkel noch etwas genauer betrachten. Ich habe zweimal dort gegessen und insofern eine noch breitere Basis für Reflektionen als bei den fünf Gerichten des FAS-Besuchs.

Eine der interessantesten Fragen bei neuen Konzepten aus der Hand von Spitzenköchen ist immer, ob sie wirklich in der Lage sind, überhaupt andere Formate zu „bespielen“. Es gibt häufig sogenannte Zweitrestaurants oder Restaurants unter der Oberaufsicht eines bekannten Kochs, in denen man eher den Eindruck hat, es gäbe hier eine irgendwie „abgespeckte“ Küche, die aber in sich keinen wirklichen Zusammenhang hat. Da mag ein Brauhaus, ein Restaurant mit Regionalküche oder ein kreatives Spitzenrestaurant einen klaren Kurs haben: dazwischen herrscht oft Zufälligkeit und Konzeptlosigkeit, die dann neuerdings gerne mit „Casual Fine Dining“ überschrieben wird, tatsächlich aber zwischen allen Welten hängt und deshalb nicht wirklich in den Köpfen der Gäste ankommt. Bei vielen Köchen, die aus der Spitzenküche kommen, gibt es zudem den Eindruck, als hätten sie sozusagen Spitzenküche gelernt, würden aber an traditionelleren oder konzentrierteren Zubereitungen scheitern.

Das banale Spiel mit dem Zeitgeist gegen eine Küche mit Geschichte und Emotionen/assoziativem Kontext
Nils Henkels Konzept ist so gut, weil er einen der Hauptfehler der „neuen Formate“ vermeidet, nämlich eine wahllose eklektizistische Zusammenstellung rund um Gerichte und Zutaten, die man gerade für schick und populär hält. Es gibt keine gute Küche, die ein solches Baukastenformat verträgt, weil sie mit ihrer Oberflächlichkeit nicht in die wirklich entscheidenden Dimensionen vordringt. Eine wirklich gute Küche definiert sich so gut wie nie nur über handwerkliche Aspekte, sondern ganz entscheidend auch über die Art, wie man mit kulinarischen Erinnerungen, wie man mit dem assoziativen Kontext umgeht. Bei Nils Henkels Konzept sind kreative Reize durchaus vorhanden, aber nie Selbstzweck. Sie sind geschmacklich eingebunden, geben keine Rätsel auf, sondern wirken exakt so, wie sie wirken sollten, nämlich wie entspannte Demonstrationen von Finesse, von Kochkunst, von dem Mehrwert, den ein hervorragender Koch liefern kann.

In den Gerichten können sich die Gäste wiederfinden, sie können Vergleiche ziehen, sie können Besuche in Spitzenrestaurants zu Rate ziehen, sie können sich an gutes Essen in jeder Form – selbst einer guten häuslichen – erinnern. Und das bedeutet heute natürlich längst nicht mehr nur Schweinshaxe, Bratwurst oder Sauerbraten, sondern das, was nun schon seit Jahrzehnten die Bezugspunkte guter Küche sind: also das ein oder andere Element aus dem mediterranen oder dem asiatischen Raum, aber auch typische Zubereitungen aus einer Art traditionellen Spitzenküche

Wieviel Sterneküchen-Input ist möglich?
Man kann bei Henkel zum Beispiel bei der Kombination von Kalbsfilet mit Kalbsbäckchen etc. ohne weiteres daran denken, dass es für solche und ähnliche Gerichte in den 80er oder 90er Jahren Sterne gab – oft genug auch mehr als einen. Kann man also in die neue, ja schließlich preislich völlig normal aufgestellte Küche im „Bootshaus“ Qualitäten der Sterneküche einfließen lassen?

Ja, das ist ohne weiteres möglich, wenn man exakt im Griff hat, wieviel Hände (von den Kosten für die Produkte einmal abgesehen) nötig sind, um ein gutes Ergebnis zu erreichen, und das in einer großen Stückzahl. Augenmaß bei der Dekoration und Zubereitungen, die länger und auch ohne dauernde persönliche Kontrolle laufen, funktionieren sehr gut. Bei Henkel ergeben sich wie selbstverständlich handwerklich beeindruckende Leistungen, die freilich vor allem von einem Aspekt zusammengehalten werden, nämlich einer präzisen geschmacklichen Vorstellung, die die Qualitäten in anderen Restaurants, die versuchen, ähnlich zu arbeiten, deshalb weit überschreiten, weil dort das Mastermind fehlt. Bei Henkel dominiert ein auffälliges Augenmaß für alle diese Zusammenhänge. Sein „Druck“ scheint es im „Bootshaus“ nicht zu sein, jeden Tag Neues zu produzieren, sondern die Gäste mit Kreationen zu verwöhnen, die ein gleichmäßiges, aber frappierendes Niveau haben, die sofort überzeugen, die sehr unterschiedliche Gäste sofort überzeugen und die eine so abgerundete Qualität haben, dass man sie gerne am nächsten Tag wieder essen würde.

Hier nun drei weitere Gerichte:

Rindertatar – Kräutercreme, Alici Marinate
An einer guten, interpretierten Version des klassischen Rindertatars arbeiten sich nach wie vor Unmengen von Köchen ab. Nachdem man erkannt hat, dass das klassisch am Tisch angemachte Tatar entweder viel zu mächtig, vor allem aber viel zu sehr „Anti-Fleisch“ war, kam dann langsam Bewegung in die Neuschöpfungen. In den guten Fällen hat man eine herzhafte Würze für das Fleisch, dem man dann aber nicht die Ausstrahlung nimmt, sondern das man sensibel ergänzt und umspielt. Bei Henkel klappt das vorzüglich mit einem zurückhaltend produktnah angemachten Fleisch, der marinierten Sardelle als Würzmittel und weich eingelegten Senfkörnern, die sich wegen ihrer Textur sanft mit dem Fleisch vermischen. Dazu kommen Nasturtium-Blätter, und eine der typischen, wirklich glasklar nach Kräutern schmeckenden Kräutercremes des Gemüse- und Kräuterspezialisten Nils Henkel. Es ergibt sich ein feines, nie rustikales Gericht mit einer differenzierten Struktur und viel Platz für die einzelnen Aromen. Das alles ist das Ergebnis einer souveränen Übersicht.

Topinambur – pochiertes Ei, Sauerklee (aus den vegetarischen Gerichten der Karte)
Es handelt sich quasi um eine Topinambur-Variation. In der Mitte liegt das pochierte Ei auf einem Bett von Topinamburpüree. Das Ei ist in der Garung genau so eingestellt, dass es nicht beim Anstechen des Eigelbs so zerfließt, dass man das Gericht kaum noch essen kann. Es fließt, aber langsam. Auf diese Weise lassen sich eine ganze Reihe von Akkorden mit Ei bilden. Es gibt gebratene Scheiben von Topinambur, getrocknete Stücke, Pfifferlinge, Blüten und rundum einen sehr gut schmeckenden Topinambur-Sud, der eine der typischen Spitzenküchen-Entwickelungen ist: man hat festgestellt, dass sich bei längerem Einkochen von Topinambursaft eine klare, spezifische Süße entwickelt, die sich hier in aufgefrischter Form als eine bestechend gute Basis erweist. Ein Gericht mit klarem Spitzenküchenanstrich, das gleichwohl (bis auf das Ei) gut vorzubereiten ist und wieder – wie oben – einen sehr differenzierten, vielfältigen Geschmack hat. Gerade als rein vegetarisches Gericht schmeckt es wirklich gut und läßt weder Fisch noch Fleisch vermissen. Es hat auch nicht den – sagen wir: grauen, engen aromatischen Schatten, der ansonsten viele vegetarische Gerichte begleitet.

Hähnchenbrust – Vadouvansud, Wurzeln, Kräutergraupen
Das Gericht glänzt erst einmal mit einer guten Garung für das Huhn, bei dem in dieser Form die Haut zu einer echten Delikatesse wird. Auch die Würze der Brust ist auffallend gut. Die Stücke liegen auf einem Bett von Kräutergraupen, die – wie alle dieser gemischten Zubereitungen – bei Henkel nach sehr gutem Koch schmecken. Dazu gibt es einen Mix aus diversen kleinen Wurzelgemüsen mit klarer Qualität und genau der Textur, die mit etwas Festigkeit dafür sorgt, dass sich die Wurzeln im Zusammenhang gut halten/durchblenden. Der Vadouvan-Sud ist nicht als Effekt eingesetzt, sondern wie eine Variante herzhafter Würze. Der Sud bringt also kein aufdringlich-fermentiertes Aroma.

Auch dieses Gericht liegt voll auf Kurs dieser Nouvelle Brasserie-Küche, die in sich all das vereint, was es seit Jahrzehnten an guten Entwicklungen gab, die gleichzeitig State-of-the-Art ist und absolut mehrheitsfähig schmeckt.

5 Gedanken zu „Nils Henkel im Bootshaus. Warum dieser Küchenstil so interessant und gut ist“

  1. Sehr geehrter Herr Dollase,
    ich lese Ihre Restaurantkritiken, Ihre Anmerkungen zu kulinarischen Entwicklungen und Ihre „Reflexionen“ zur Kochkunst immer mit großem Interesse. Auch der Artikel über Nils Henkel hat mir sehr gut gefallen. Noch besser wäre er aber, wenn Sie das Nomen „Reflektionen“ durch das Nomen „Reflexionen“ ersetzen könnten.

    Mit freundlichen Grüßen
    Ignaz Wrobel

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    • Lieber Herr Wrobel, vielen Dank für die Korrektur. Der Zweifel an alter und neuer Rechtschreibung ist nie ausgeräumt. Bevor ich aber dazu übergehe, meine eigene Rechtschreibung zu entwickeln, werde ich mich weiter bemühen..wenn man etwas reflektiert…wo kommt dann das x her? In diesem Sinne mit freundlichen Grüßen

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      • Lieber Herr Dollase,
        die deutsche Rechtschreibung bietet viele Fallstricke. „Reflektieren“ und „Reflexion“ stammen aus dem Lateinischen. Das Nomen schreibt sich lateinisch „reflexio“, das zugehörige Verb „reflectere“. Dieser Unterschied wird dann im Deutschen zu „refelektieren“ in der Verbbildung und zu „Reflexion“ in der Bildung des Nomens. Ähnliches findet sich auch bei „Annexion“ und „annektieren“.
        An dieser Stelle möchte ich mich herzlich für Ihre Reflexionen über die deutsche und internationale Küche bedanken, reflektieren sie doch die aktuellen Entwicklungen auf einem hohen Niveau, so dass ich Ihre Text immer mit Genuss lese.

        Herzliche Grüße
        Ignaz Wrobel

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